Myanmar: Junge Menschen fliehen vor Krieg und Wehrpflicht nach Thailand (2024)

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Ray, 26 Jahre

Myanmar: Junge Menschen fliehen vor Krieg und Wehrpflicht nach Thailand (1)

Seinen 26. Geburtstag erlebt Ray weit weg von zu Hause, weit weg von Myanmar, in einem winzigen Zimmer im Osten Bangkoks, das er mit einem Mitbewohner teilt. Unter einem buddhistischen Wandschrein brennt eine rote Geburtstagskerze. Am Boden liegt eine aufblasbare Matratze; während des Tages schiebt Ray sie zur Seite, damit er Platz hat fürs Kochen, Kartenspielen, Thai-Lernen. Er lebt in einem niedrigen Wohnblock in der thailändischen Hauptstadt, in einem Viertel, in dem sich schon immer viele Myanmarer niedergelassen haben. Die Mieten sind hier, fernab vom Zentrum, billiger.

In dem Mehrfamilienhaus suchen viele geflüchtete Familien aus Myanmar Unterschlupf, seit das Militär sich in ihrer Heimat vor drei Jahren zurück an die Macht putschte und ein brutaler Bürgerkrieg begann. Und viele mehr, gerade junge Leute, kamen seit dem vergangenen Februar nach Bangkok. Da setzte die Junta eine Wehrpflicht durch: Alle jungen Männer zwischen 18 und 35 können seitdem zum Dienst an der Waffe eingezogen werden. Kämpfen sollen sie nicht etwa gegen Feinde von außen, sondern gegen die eigene Bevölkerung. Jeder junge Mann kann verpflichtet werden, auf Landsleute zu schießen und für ein Regime in den Krieg zu ziehen, das die allermeisten ablehnen.

Für Menschen wie Ray ist deshalb die Flucht nach Thailand zur einzigen Option geworden. Wie Zehntausende andere lebt er inzwischen in dem Nachbarland. Er sagt: »Sie hätten mich nur als Kanonenfutter verwendet, wie einen menschlichen Schutzschild. Ich denke, sie hätten mir nicht einmal eine Waffe zur Verteidigung gegeben.« In Myanmar lebte er in ständiger Angst.

Myanmar: Junge Menschen fliehen vor Krieg und Wehrpflicht nach Thailand (2)

Als im Februar ein enger Freund von ihm zum Militärdienst eingezogen wird, wird die Bedrohung real. Ray verkauft sein Motorrad, packt das Geld und seinen Koffer und flieht. Mit einem Touristenvisum kommt er in Thailand an. Er schlägt sich erst auf der Urlaubsinsel Koh Samui durch, bekommt aber keinen richtigen Job. In Bangkok überlebt er mit dem bisschen, was vom Ersparten übrig geblieben ist.

Längst ist sein Visum abgelaufen. Er lebt jetzt illegal im Land, wenn die Behörden ihn erwischen, könnte er abgeschoben werden – oder Strafe zahlen müssen. Neben Sicherheitsbedenken ist das der Grund, warum Ray und die anderen Menschen in diesem Text nur mit einem Spitznamen genannt werden, warum wir ihre Gesichter nicht zeigen.

Rays Heimatstadt Mergui liegt ganz im Süden Myanmars. Vor dem Coup, erzählt er, habe er bei einer Versicherung gearbeitet, er sei abends ausgegangen, lange aufgeblieben, mit Freunden rumgehangen, ein junger Kerl Anfang 20 eben, auf dem Weg in ein unabhängiges, erwachsenes Leben. Dann aber habe sich sein Leben immer mehr von der Freiheit in die Unfreiheit verwandelt. »Seit dem Putsch gilt ab acht Uhr abends eine Ausgangssperre. Wenn ich in den Urlaub wollte und meine Stadt verlassen, brauchte ich ein Empfehlungsschreiben der lokalen Stadtaufsicht. Manche meiner Freunde sind dem Widerstand beigetreten, mit ihnen kann ich keinen Kontakt halten. Zu gefährlich.«

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Ray ist in Sicherheit, jedenfalls vorerst. Doch der Neuanfang in Thailand fällt ihm schwer. Oft liegt Ray nachts wach, die Sache mit dem Geld macht ihm große Sorgen. Er hat bisher kaum thailändische Freunde, weil er sich nicht mit ihnen unterhalten kann. Auf einem Tischchen in der Mitte des Zimmers liegen deshalb Notizblock und Kugelschreiber, Ray lernt jetzt Thai – was sich vom Myanmarischen in Schrift und Sprache stark unterscheidet. Er denkt, dass er damit vielleicht Freunde finden kann und bessere Chancen auf eine Anstellung hat. Er sagt, er sei froh, dass er Single ist, sonst hätte er neben der Familie auch noch seine Freundin hinter sich lassen müssen.

Khine, 25 Jahre

Auf dem Bang Bon Market im Osten Bangkoks werden die Waren in myanmarischer Schrift angepriesen; in den Ecken der kleinen Geschäfte stehen gerahmte Bilder von Aung San Suu Kyi, der ehemaligen Regierungschefin Myanmars, die seit dem Putsch in Haft ist und für viele Landsleute weiter das Gesicht einer besseren Zeit, eine Zeit der Öffnung und Demokratisierung Myanmars, die das Militär gewaltsam beendete.

Bang Bon ist ein Treffpunkt der myanmarischen Exil-Community. Es gibt dort Tea-Leaf-Salat und süßen myanmarischen Milchtee; gelbe Curries; Bethelnussblätter; Thanaka-Paste, die sich Frauen auf die Wangen schmieren. Sonntags werden Spendenaktionen veranstaltet. Die Leute auf dem Markt – Geschäftsleute und Besucherinnen – kennen sich, helfen sich, vermitteln Schlafplätze für Neuankömmlinge. Hören den Sorgen zu und den Fluchtgeschichten.

»Als Frau bin ich unter den Soldaten besonders in Gefahr. Ich könnte vergewaltigt werden. Ich bin schwächer als die Männer. Ich weiß nicht, wie ich eine Waffe benutze«

Khine, 25, Geflüchtete aus Myanmar in Bangkok

Myanmar: Junge Menschen fliehen vor Krieg und Wehrpflicht nach Thailand (7)

Khine, 25 Jahre, ist oft auf dem Markt. Hier, sagt sie, fühlt sie sich weniger allein. Der Markt ist ihr Ersatz für das, was sie am meisten vermisst: die Familie. Ende Februar floh sie illegal über die Grenze nach Thailand, von Yangon über die Stadt Tachileik im Shan State bis hinüber in die Stadt Mae Sai auf thailändischer Seite.

Frauen sind zwar im Moment von der Wehrpflicht ausgeschlossen, doch Khine hat Angst, dass sich das ändern könnte: »Wenn ich dienen muss, werde ich sterben. Ich würde meine Eltern nicht mehr sehen.«

Sie sagt auch: »Als Frau bin ich unter den Soldaten besonders in Gefahr. Ich könnte vergewaltigt werden. Ich bin schwächer als die Männer. Ich weiß nicht, wie ich eine Waffe benutze.« Sie sei nicht grundsätzlich gegen die Idee einer Wehrpflicht. »Aber ich lehne dieses Regime ab. Es missbraucht die Wehrpflicht wie einen Vorwand, damit wir uns gegenseitig abschlachten.«

Khine stammt aus einer Gegend im Zentrum Myanmars, in der das Militär weiter stark ist und die Kämpfe heftig. Ihr Ort heißt Myaing. Sie erzählt, wie dort bereits Raketen neben dem Haus ihrer Eltern einschlugen und vieles zerstörten. Die Familien, die geblieben sind, müssen immer wieder zusehen, wie ihre Dörfer in Flammen aufgehen, wie wiederaufgebaute Gebäude erneut zerbombt werden. Viele, sagt sie, haben Angehörige bei den Angriffen verloren.

Khine selbst floh vor dem Kämpfen erst in die große Stadt Yangon, schlug sich als Verkäuferin in Apotheken und Weinhandlungen durch, als Ticketverkäuferin in Bussen. Sie wollte abtauchen, vom Krieg nichts mehr mitbekommen. Die Angst holte sie ein, trieb sie schließlich nach Bangkok.

Hier versucht sie, einen Onlineshop für Beauty-Artikel aus Myanmar zu eröffnen, doch bisher sind keine Bestellungen eingegangen. Und Khine hilft ab und an in einem Restaurant auf dem Markt aus. Bedient die Kundschaft, schneidet Gemüse. Sie bekommt kein Geld dafür, stattdessen Essen und Getränke, und sie sagt, die Belegschaft behandle sie, als wäre sie Teil der Familie. Denn die meiste Zeit, seit sie in Bangkok ist, fühlt sie sich einsam.

»Ich war noch nie in einem anderen Land als Myanmar. Als ich hier ankam, habe ich nur geweint«, erzählt sie. Wenn Khine Nachrichten von zu Hause liest, bei Facebook etwa, kommt der ganze Stress von Neuem hoch und auch das schlechte Gewissen, die Familie im Stich gelassen zu haben.

Es gibt Traumatherapeuten wie den deutschen Arzt Andreas Krüger, der sich in Hamburg mit den seelischen Schäden Geflüchteter beschäftigt und sagt, damit es Menschen besser gehen kann, reiche es nicht, selbst in Sicherheit zu sein. Erst wenn alle im persönlichen Umfeld sicher sind, könne die Seele eines Menschen anfangen zu heilen. Wie soll das gehen, bei einer Bevölkerung wie der von Myanmar, deren Menschen auf ungewisse Zeit im Bürgerkrieg leben, mit zerrissenen Familien und kaum Hilfe?

Nyan Lynn Pyae, 24 Jahre

Nyan Lynn Pyae, 24 Jahre alt, ein Mann mit einem wachen Gesichtsausdruck, kam schon vor der Wehrpflicht nach Thailand. Gerade aus dem Teenageralter raus, fing er vor zweieinhalb Jahren in Bangkok ein neues Leben an. Er hat gegenüber Leuten wie Khine und Ray einen Vorsprung, und den nutzt er, um zu helfen.

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Nyan Lynn Pyae berät die Neuankommenden, hilft ihnen, eine Wohnung zu finden oder vermittelt jenen, denen es nicht gut geht, Gesprächspartner. Ständig bittet ihn jemand bei »Line«, so was wie dem thailändischen WhatsApp, um Rat.

Es gibt, sagt er und zählt mit den Fingern mit, drei große Schwierigkeiten für die Migranten. Die Erste seien die Schleuser, die die jungen Leute über die Grenze nach Thailand schmuggelten und unverschämt viel Geld dafür nähmen. Die Zweite seien die Aufenthaltsgenehmigungen. Nur wenige seiner Landsleute sind legal in Thailand. Und drittens kommt dazu die Arbeitslosigkeit. Ohne Arbeitserlaubnis keine Anstellung – oder nur unterbezahlte, unsichere Jobs. »Myanmarer werden in Thailand massiv ausgebeutet«, sagt er.

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Laut einer Studie der Vereinten Nationen sind davon gerade myanmarische Frauen ohne Papiere betroffen. Sie sind Diskriminierungen ausgesetzt, verdienen demnach in Thailand weit weniger als den Mindestlohn, haben zugleich kaum Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen in Krankenhäusern oder Beratungsstellen. Human Rights Watch drängt, neben anderen Organisation, die thailändische Regierung, die Geflüchteten besser zu unterstützen und Auslieferungen an das Militärregime in Myanmar auszusetzen.

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Nyan Lynn Pyae sagt, fast die gesamte junge Generation Myanmars lebe im Exil. Wer, fragt er sich, soll einmal die Heimat, die in Trümmern liegt, wieder aufbauen? Für seine Landsleute, sagt er, sei beides schwer: gehen und bleiben. Jeder wolle doch eigentlich an dem Ort sterben, an dem er geboren wurde. »Aber wer in Myanmar geboren wurde, wird immer den schwierigen Weg gehen müssen.«

Redaktionelle Mitarbeit: Aung Khant Si Thu

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

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Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft.

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